Blick von einer Empore in einen bunt bestuhlten Festsaal mit Bühne.

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Neue Napola-Doku: Drei Fragen an Helen Roche

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Neue Napola-Doku: Drei Fragen an Helen Roche /

Eine Frau spricht vor Publikum.

Helen Roche beantwortet bei der Filmvorführung im ZfP Reichenau zahlreiche Fragen.

Frau Roche, Sie forschen zu Napolas und haben mit Ihrem Buch „The Third Reich's Elite Schools: A History of the Napolas“ die erste umfassende Monographie über die ehemaligen Eliteschulen der Nazis geschrieben. Warum haben Sie noch einen Dokumentarfilm gedreht?
Nach umfangreicher Recherche ist mein Buch 2021 endlich erschienen – das Interesse war enorm. Ich habe mehrere Anfragen von Produktionsfirmen bekommen, die für das Fernsehen Dokumentationen drehen wollten. Mir wurde aber schnell klar, dass bei einer Zusammenarbeit jegliche Rechte am Film an die Produktionsfirma übergehen. Ich hätte keine Möglichkeit mehr gehabt, mich kreativ oder akademisch einzubringen. Meine Befürchtung war, dass das Thema ,sensationell‘ aufbereitet werden könnte, aber mir ist eine gründliche, akademische und fundierte Herangehensweise wichtig. Deshalb habe ich selbst zusammen mit einem unabhängigen Projektpartner in verschiedenen ehemaligen Napolas gedreht und sieben Zeitzeugen interviewt.

Welche neuen Erkenntnisse haben Sie bei den Dreharbeiten für Ihre Dokumentation gewonnen, insbesondere in Reichenau?
Jede Napola hatte ihre eigene Tradition und Geschichte. Die ehemaligen preußischen Kadettenanstalten waren traditionsreiche Schulen. Sie unterschieden sich architektonisch stark von Napolas, wie Reichenau und Illenau, die ursprünglich als Heil- und Pflegeanstalten gebaut worden waren. Dort wurden die Patient:innen ermordet, teilweise auch verlegt, um Platz für Napolas zu machen. Das ist ein wichtiger Teil der Geschichte, der so noch nicht hervorgebracht wurde. Diese historische Einordnung und das Gedenken an die Opfer hängen eng zusammen. 

Wie machen Sie jetzt weiter?
Die Dokumentation ist nur eine halbe Stunde lang. Ich habe noch so viel Material, das darin nicht vorkommt, sodass ich noch eine längere Fassung machen will. Außerdem möchte ich Bildungsmaterial auf Deutsch und Englisch erstellen. 

Dr. Helen Roche ist außerordentliche Professorin für moderne europäische Kulturgeschichte an der Universität Durham. Die Fragen stellte Barbara Baur, Referentin für Unternehmenskommunikation am ZfP Reichenau.


Rund 70 Menschen sitzen in einem Vortragsraum und klatschen.

Gut 70 Interessierte sind bei der Filmvorführung dabei.

So war die Filmvorführung im ZfP Reichenau /

Thomas Müller, Leiter des Forschungsbereichs Geschichte und Ethik der Medizin am ZfP Südwürttemberg, führte die gut 70 Gäste, die zur Filmvorführung in Haus 20 gekommen waren, nach einer Begrüßung durch den Ärztlichen Direktor Uwe Herwig in das Thema ein. Er erläuterte, dass die Nationalsozialisten bei der Eröffnung der Napola in Reichenau 1941 offen darüber gesprochen haben, dass die Gebäude „leer gemacht“ worden seien, um Platz für die Ausbildung der künftigen Elite zu schaffen. Aus diesem Grund sind die Geschichte der Napola und die Geschichte der Psychiatrie enger miteinander verknüpft, als dies seiner Wahrnehmung nach in der Region bisher behandelt, und dies trotz der bedeutenden regionalhistorischen Arbeit von Arnulf Moser.

Helen Roche erläuterte, wie sie bei ihrer Arbeit vorgegangen ist. Sie sei auf das Thema gestoßen, als sie ihre Doktorarbeit über die Rezeptionsgeschichte des antiken Sparta in deutschen Erziehungsanstalten im 19. und 20. Jahrhundert geschrieben habe, berichtete sie. Darin geht es unter anderem um preußische Kadettenanstalten, die in der NS-Zeit ebenfalls zu Napolas umfunktioniert wurden. 

Wie die Recherche ablief

Zwar stieß sie auf mehrere lokale Schriften und Zeitzeugenberichte von ehemaligen Napola-Schülern, zu ihrer Überraschung gab es aber zu diesem Zeitpunkt noch kein umfassendes Werk zum Thema. Daraufhin hat sie in über 80 Archiven weltweit recherchiert und mit mehr als 100 Zeitzeugen gesprochen. Für die Dokumentation holte sie sieben der Zeitzeugen vor die Kamera und filmte in mehreren ehemaligen Napolas im heutigen Deutschland. 

Der Film zeigt die Historikerin bei ihren Recherchen vor Ort wie auch ihre Interviewpartner, die ihre Erlebnisse als Schüler von Napolas schildern. „Die Zeitzeugen waren am Ende des Kriegs zehn bis 16 Jahre alt“, erläuterte Roche. Die ehemaligen Schüler berichten über die Aufnahme an der Napola – es gab etwa mündliche und schriftliche Prüfungen sowie eine Mutprobe. Sie beschreiben ein System, bei dem es nicht um Einsicht, sondern um Befehl und Gehorsam ging. 

Wie die ehemaligen Schüler die Napola erlebten

Der dicht getaktete Schulalltag war geprägt von Appellen und Diensten, die die Jungen übernehmen mussten. Christliche Feste und Traditionen wie Weihnachten sollten durch NS-Traditionen wie zum Beispiel Sonnwendfeste verdrängt werden. Es gab Gelände- und Schießübungen mit scharfen Waffen. Sport und körperliche Ertüchtigung dienten der Vorbereitung auf den Krieg. Der heroische Tod ehemaliger Napola-Schüler auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkriegs wurde gefeiert. 

Gegen Ende des Kriegs fiel der Unterricht immer häufiger aus, da immer mehr Lehrer einberufen wurden. Die Nahrungsmittel wurden immer knapper. „Ab 1944 hatten wir ständig Hunger“, erzählte einer der Zeitzeugen. Ein anderer schildert, wie er seinen Dolch, den er in der Napola bekommen hatte, weggeschmissen habe. Nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes habe er davon nichts mehr wissen wollen.

Nach dem Film beantwortete Helen Roche viele Fragen. Sie reichten von der Rolle von Mädchen und Frauen in der nationalsozialsozialistischen Bildung, der Napola für Mädchen in Illenau, dem Umgang der ehemaligen Schüler mit ihrer Napola-Vergangenheit nach dem Ende des Kriegs bis zu der Frage, inwiefern die Kinder und Jugendlichen durch diese Art der Pädagogik traumatisiert wurden.