Blick von einer Empore in einen bunt bestuhlten Festsaal mit Bühne.

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Warum Arbeit für psychisch erkrankte Menschen so wichtig ist

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Warum Arbeit für psychisch erkrankte Menschen so wichtig ist /

Ein Mann hält vor ca. 80 Zuhörerinnen und Zuhörern einen Vortrag.

Daniel Nischk berichtet im Festsaal des ZfP Reichenau von den Erfahrungen aus zehn Jahren Supported Employment.

Das Team des Supported Employment im ZfP Reichenau begleitet seit zehn Jahren Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen beim Einstieg in den allgemeinen Arbeitsmarkt. Das Thema war ein Schwerpunkt der diesjährigen Fachtagung Neurodiversität.

„Wenn es Arbeit nicht gäbe, müsste man sie aus psychosozialen Gründen erfinden“, sagte Andreas Bechdolf, Chefarzt am Vivantes Klinikum Am Urban in Berlin-Kreuzberg, der in seinem Vortrag einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand gab. Arbeit habe eine stark unterstützende Funktion, ermögliche soziale Teilhabe und gebe Zeitstruktur, um nur einige Vorteile zu nennen. 

Die Forschung zeigt, dass es hilfreich ist, im Krankheitsverlauf möglichst früh anzusetzen. Damit verfolgt das Supported Employment, auch Individual Placement and Support (IPS) genannt, einen anderen Ansatz als viele etablierte Methoden, bei denen Betroffene im geschützten Rahmen von Reha-Werkstätten langsam wieder an Arbeit herangeführt und trainiert werden.

Arbeit als Teil der Behandlung

Beim IPS hingegen wird die reguläre Arbeit in die psychiatrische Behandlung integriert. Die Patientinnen und Patienten werden bei der Arbeitssuche auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unterstützt. Nachdem ein Arbeitsplatz gefunden wurde, werden ggf. zusätzlich erforderliche Fähigkeiten geschult, die die Inklusion auf den Arbeitsmarkt erschweren. 

Außerdem erfolgen Tätigkeitsanpassungen, z.B. längere Einarbeitungsphasen, andere Pausenregeln, Freistellung von bestimmten Aufgaben. Bei der Berufswahl gebe es für Menschen mit schweren psychischen Störungen prinzipiell keine Ausschlusskriterien. „Viele Ziele sind gut zu erreichen, wenn wir einem übergeordneten Ziel folgen“, sagte Bechdolf. 

Programm für junge Psychosebetroffene

Das Supported-Employment-Projekt des ZfP Reichenau (SE) ist vor zehn Jahren aus dem Wunsch heraus gestartet, für junge Psychosebetroffene eine Lücke zwischen der Behandlung in der Klinik und dem Weg in die Eigenständigkeit zu schließen. Daniel Nischk, der das SE leitet, berichtete, dass es anfangs Bedenken gab, dass Betroffene überfordert und die Krankheitsverläufe verschlechtert werden könnten. 

In den vergangenen zehn Jahren hat das Supported-Employment-Team rund 300 Klientinnen und Klienten unterstützt. Viele der Teilnehmenden sind schwer erkrankt, die häufigsten Hauptdiagnosen sind Depressionen, Persönlichkeitsstörungen und Psychosen. Rund 60 Prozent arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. „Wenn ein Job vorhanden ist, erhalten wir ihn fast immer erfolgreich“, sagte Nischk.

Arbeit orientiert sich an individuellen Fähigkeiten

Wichtig sei es, die Arbeit so zu gestalten, dass sie sich an den Fähigkeiten und Einschränkungen der Betroffenen orientiert. Dabei sollten die Erwartungen möglichst realistisch sein. Durch ihre Einschränkungen seien viele nicht im Vollerwerb tätig. 

Insgesamt sieht Nischk eine Win-Win-Situation für Betroffene und das Gesundheitswesen. Auch für die Gesellschaft lohne es sich. Die Kosten belaufen sich für eine Klientin oder einen Klienten auf gut 300 Euro im Monat. „Wenn der Klient 400 Euro verdient, hat es sich schon gelohnt“, sagte Nischk. Bedenken könne man getrost ablegen: „Es gibt keinen Grund, das nicht zu machen.“ 

Beim SE in Reichenau sind meistens alle Plätze belegt. „Wir bekommen mehr Anfragen, als wir bedienen können“, sagte Nischk. Doch wer es mehrmals probiere, habe durchaus gute Chancen, teilnehmen zu können, auch dank der Förderung durch den Landkreis Konstanz. Sie ermögliche es, 25 bis 30 zusätzliche Klientinnen und Klienten zu betreuen. 

Finanziell steht Supported Employment auf mehreren Beinen: Ein Teil der Patient:innen wird über PIA-Leistungen abgerechnet, ein Teil über die Rente und das Landratsamt Konstanz trägt die Kosten für eine Stelle. Die restlichen Kosten übernimmt das ZfP Reichenau. 

Über die Haltung der Arbeitgeber im Landkreis Konstanz kann Nischk übrigens nur Positives berichten. „Wir machen fast nur einladende Erfahrungen.“

Wie Vorurteile bekämpft werden können

Dennoch müssen häufig Vorurteile, mit denen psychisch erkrankte Menschen auch in der Arbeitswelt konfrontiert sind, abgebaut werden, wie Nicolas Rüsch, Professor für Public Mental Health und Oberarzt an der Uniklinik Ulm, erläuterte. „Man muss immer mit Diskriminierung rechnen, wenn man ein Stigma hat“, sagte er. Dabei spielen Stereotype und Vorurteile eine große Rolle. Sie münden häufig in Diskriminierung. 

Die wirksamste Methode gegen Stigma ist laut Rüsch persönlicher Kontakt. Der müsse positiv sein und unter günstigen Rahmenbedingungen stattfinden. Er erforscht unter anderem, ob und unter welchen Voraussetzungen es für Menschen mit einer psychischen Erkrankung hilfreich ist, sich am Arbeitsplatz zu offenbaren. Das peer-geleitete Programm „In Würde zu sich stehen“ unterstützt Betroffene, eine bewusste Entscheidung darüber herbeizuführen.

Fachtagung mit praxisnahen Workshops

Bei der gemeinsamen Fachtagung Neurodiversität, die vergangenes Jahr vom Team der Diagnostiksprechstunde ins Leben gerufen worden ist, gab es neben weiteren Vorträgen auch praxisnahe Workshops. Dabei lag der Fokus auf der Diagnostik von Störungsbildern wie ADHS und ASS sowie möglichen Behandlungsoptionen. Ein weiteres zentrales Thema waren die Herausforderungen, vor denen Menschen aus dem neurodivergenten Spektrum in Ausbildung und Beruf stehen, da gerade auch ihre Besonderheiten und Stärken in der Arbeitswelt sinnvoll eingesetzt werden können.


Weitere Informationen zum Supported Employment sowie ein FAQ finden Sie hier